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Nicaragua 1982

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Das Mädchen und der Mann

Morgens gegen halb acht in der Hauptstadt Managua.

Ich bin im Zentrum und muss dort etwas erledigen.

Die Kamera habe ich wie immer dabei. Ich weiß es

noch genau: ich parke das Auto, steige aus, gehe ein

paar Schritte, und da ist das Bild. Ein kleines

Mädchen, sehr ernst, hat es eilig, während auf dem

Bürgersteig der alte Mann liegt und schläft. „Eilig“?

„Schläft“? Das Mädchen ist auf dem Weg zur Schule,

der Mann schläft seinen Rausch aus. Das Mädchen

beachtet ihn nicht. Das sind meine Interpretationen.

Vielleicht sind sie richtig, doch zumindest hätte es so

sein können.

Dieses Foto ist für mich immer besonders wichtig

gewesen. Es enthält in meiner Interpretation nämlich

das, was mich im Nicaragua der frühen

Neunzehnhundertachtzigerjahre besonders berührte:

hier Erschöpfung, Elend und Verwahrlosung, dort die

Hoffnung und die allmorgendliche Mühe, das Leben

zu gestalten, ihm eine Perspektive zu geben. Es

kostet viel Kraft, aber wir geben nicht auf, scheint

das Mädchen auszudrücken. Seine Haare sind frisch

gewaschen und noch feucht. Die armselige, viel zu

große Hose und das Poloshirt sind gepflegt. Weiße

Söckchen und glänzende Lackschuhchen. Sie ist

ordentlich angezogen, für die Schule eben. Eine Hand

steckt in ihrem Beutel, als sei etwas Wertvolles darin,

das sie festhalten muss. Ihre Schulsachen vielleicht,

Bleistift und Hefte sind kaum ersetzbar.

Dass der rechte Fuß des Mädchens auf einem Deckel

zur Wasserversorgung steht, ist ein weiteres Zeichen:

Ohne Wasser kein Leben. Ich stelle mir vor, wo sie

wohl her kommen mag: aus einem der Holzhäuser

oder aus den Ruinen, die im Zentrum Managuas

immer noch bewohnt sind? Ohne fließend Wasser,

staubig und zur Regenzeit schimmlig feucht. Früh

um halb sechs ist die Familie aufgestanden, der Vater

ist wieder nicht nach Hause gekommen. Das Mädchen

geht Wasser holen, die Mutter zündet das

Holzfeuerchen an, wärmt einen Rest süßen Kaffees

und ein paar trockene Tortillas vom Vortag auf. Ein

Stück Käse gibt es noch, aber wo soll sie das Essen

für den Tag her nehmen? Sie schimpft auf den Mann,

der das Geld versäuft. Oder, der Mann ist ihr längst

egal, und statt sich aufzuregen, sorgt sie dafür, dass

die Tochter zur Schule geht.