Das Mädchen und der Mann
Morgens gegen halb acht in der Hauptstadt Managua.
Ich bin im Zentrum und muss dort etwas erledigen.
Die Kamera habe ich wie immer dabei. Ich weiß es
noch genau: ich parke das Auto, steige aus, gehe ein
paar Schritte, und da ist das Bild. Ein kleines
Mädchen, sehr ernst, hat es eilig, während auf dem
Bürgersteig der alte Mann liegt und schläft. „Eilig“?
„Schläft“? Das Mädchen ist auf dem Weg zur Schule,
der Mann schläft seinen Rausch aus. Das Mädchen
beachtet ihn nicht. Das sind meine Interpretationen.
Vielleicht sind sie richtig, doch zumindest hätte es so
sein können.
Dieses Foto ist für mich immer besonders wichtig
gewesen. Es enthält in meiner Interpretation nämlich
das, was mich im Nicaragua der frühen
Neunzehnhundertachtzigerjahre besonders berührte:
hier Erschöpfung, Elend und Verwahrlosung, dort die
Hoffnung und die allmorgendliche Mühe, das Leben
zu gestalten, ihm eine Perspektive zu geben. Es
kostet viel Kraft, aber wir geben nicht auf, scheint
das Mädchen auszudrücken. Seine Haare sind frisch
gewaschen und noch feucht. Die armselige, viel zu
große Hose und das Poloshirt sind gepflegt. Weiße
Söckchen und glänzende Lackschuhchen. Sie ist
ordentlich angezogen, für die Schule eben. Eine Hand
steckt in ihrem Beutel, als sei etwas Wertvolles darin,
das sie festhalten muss. Ihre Schulsachen vielleicht,
Bleistift und Hefte sind kaum ersetzbar.
Dass der rechte Fuß des Mädchens auf einem Deckel
zur Wasserversorgung steht, ist ein weiteres Zeichen:
Ohne Wasser kein Leben. Ich stelle mir vor, wo sie
wohl her kommen mag: aus einem der Holzhäuser
oder aus den Ruinen, die im Zentrum Managuas
immer noch bewohnt sind? Ohne fließend Wasser,
staubig und zur Regenzeit schimmlig feucht. Früh
um halb sechs ist die Familie aufgestanden, der Vater
ist wieder nicht nach Hause gekommen. Das Mädchen
geht Wasser holen, die Mutter zündet das
Holzfeuerchen an, wärmt einen Rest süßen Kaffees
und ein paar trockene Tortillas vom Vortag auf. Ein
Stück Käse gibt es noch, aber wo soll sie das Essen
für den Tag her nehmen? Sie schimpft auf den Mann,
der das Geld versäuft. Oder, der Mann ist ihr längst
egal, und statt sich aufzuregen, sorgt sie dafür, dass
die Tochter zur Schule geht.